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Der folgende Beitrag erschien in European Photography – Art Magazine (Berlin) Nr. 77, 2005 und stellt Thesen des Buches Konkrete Fotografie (1) durch einen seiner Verfasser zur Diskussion. Der Text behandelt besonders die entscheidenden Eckpunkte des Themas.

Gottfried Jäger: Was ist Konkrete Fotografie?

„Was den Ausdruck ‚konkret’ angeht, so ist er zunächst, wie auch bei Hegel, durchaus als Gegensatz zum Ausdruck ‚abstrakt’ zu verstehen. Das Konkrete ist das Nichtabstrakte. Alles Abstrakte hat etwas zur Voraussetzung, von dem gewisse Merkmale abstrahiert wurden. Alles Konkrete ist hingegen nur es selbst.“ (Max Bense)

I. abstrakt–konkret

Das Zitat von Max Bense aus dem Jahr 1965 (2) verweist auf eine wichtige Unterscheidung, die bei der Erörterung dessen, was Konkrete Fotografie sei, eine erste wichtige Rolle spielt. Abstraktion und Konkretion sind unterschiedliche Erkenntnis- und Darstellungsmethoden. Sie verfahren geradezu entgegengesetzt. Die abstrakte Methode geht deduktiv vor. Sie schließt vom Allgemeinen auf das Besondere, z.B. vom allgemein Sichtbaren auf das besondere Nichtsichtbare. Sie reduziert das Unwesentliche zugunsten des Wesentlichen. So entsteht ein abstraktes Bild als Ausdruck der ‚Idee’ des Gegenstandes. Die konkrete Methode verfährt entgegengesetzt, induktiv. Sie geht vom Besonderen aus, vom ‚Nichts’, vom Nichtsichtbaren, z.B. von einem Gedanken, von einer Idee, um aus ihr heraus einen neuen ‚Gegenstand’ entstehen zu lassen: ein komplexes Ganzes, ein Konstrukt. Es entsteht ein neues, sichtbares, jedoch ganz anderes Bild, das mit allen vorhergehenden und bisher bekannten Bildern kaum Ähnlichkeit besitzt. Die Abstraktion, so kann man daher sagen, idealisiert einen Gegenstand, Konkretion vergegenständlicht ein Ideal. Ein abstraktes Foto ist ein nichtkonkretes, ein konkretes dagegen ein nichtabstraktes Foto. Es ist etwas eigenes, es selbst.

Konkrete Fotografien sind aber nicht nur nichtabstrakt, sondern auch: nichtgegenständlich. Sie bringen einen eigenen Gegenstand hervor. Sie sind eigenschöpferisch und ohne Vorbild. Insofern sind sie auch nichtsymbolisch. Sie bilden nichts ab und stellen nichts dar. Sie setzen neue Zeichen in die Welt. Sie sind weder Ikone, noch Symbole. Von diesen Aufgaben haben sie sich befreit. Sie wollen nicht vermitteln, sondern sein: nicht Medium, sondern Objekt. Sie sind eigensinnig, egozentrisch, introvertiert; sie zeigen was sie wollen, nicht was sie sollen. Sie träumen. Ihre Schönheit, Wahrheit und Güte gehen ineinander auf. Sie sind absolut. Und universell: eigengesetzlich und selbstbezüglich. Damit sind sie frei von allen ihnen im Laufe der Zeit zugesprochenen oder erworbenen Eigenschaften. Doch diese Freiheit war zu keiner Zeit umsonst, und ihre Pioniere zahlten manchmal einen hohen Preis. Sie machten sich lächerlich, nahmen Verunglimpfungen, Verbote und Verfolgungen in Kauf.

II. konstruktiv–konkret

Eine zweite wesentliche Unterscheidung ist zu treffen angesichts der Aufgabe, das Konkrete Foto zu beschreiben: die Unterscheidung zwischen konkret und konstruktiv. Es sind Eigenschaften, die oft in eins gesetzt werden, ein Geburtsfehler des künstlerischen Konkretismus. So stellt das Manifest zur konkreten Malerei von Theo van Doesburg aus dem Jahr 1930 (3), auf das sich die Konkrete Gemeinschaft bis heute beruft, zwischen dem Konkreten und dem Konstruktiven eine Art Junktim her, eine wechselseitige Bedingung, die wohl historisch, aber nicht faktisch begründet ist. Zunächst, so das Manifest, sollen Bildelement und Werk konkreter Malerei „nichts anderes als ‚sich selbst’ bedeuten“ – wobei die Konstruktion eines Gemäldes „einfach und visuell überprüfbar“ und im „Streben nach absoluter Klarheit .. exakt, anti-impressionistisch“ sein soll. Die erste Forderung ist ontologischer Natur. Sie zielt auf das Dasein und das Selbstverständnis des Kunstwerks, fordert seine Eigenständigkeit und Autonomie. Die danach folgenden Forderungen sind stilistischer Natur, sie zielen auf spezifische Formen des Werkes, so auf die Verwendung und den Ausschluss bestimmter Stilmittel. Angesichts der Umstände und seines eigenen Werkes mag die Verknüpfung beider Ebenen, der ontologischen Ebene mit der stilistischen, für van Doesburg nahe gelegen haben. Insofern hat beider Verbindung im kunsthistorischen Kontext ganz sicher ihre Bedeutung, die nicht zu übersehen ist. Andererseits muss man erkennen, dass die konkrete Methode keinen eigenen Formstil beanspruchen kann. Ein konkretes, nur auf sich selbst verweisendes Kunstwerk zu schaffen, muss auch mit anderen Stilmitteln möglich sein. Es wäre reinstes Dogma, aus historischen Gründen für immer auf der Interdependenz von konkret und konstruktiv zu bestehen. Dies wäre auch wenig anregend für eine Fortentwicklung konkreter Kunst. Schließlich geht es dem Konkretismus in erster Linie um die Selbstverwirklichung des Künstlers in seinem Werk, verbunden mit dem Anspruch auf dessen unbedingter Autonomie. Dieser Umstand wurde als eine der größten Leistungen der Kunst des 20. Jahrhunderts beschrieben. Als Akt der Freiheit. Dem gegenüber erscheinen alle anderen Forderungen zweitrangig. Der Sprengstoff steckt in dem ‚sich selbst’.

Insofern geht der Begriff Konkretismus über den des Konstruktivismus hinaus. Er ist der weitergehende, radikalere Ansatz. Konkretismus erweist sich als übergeordnete Methode, Konstruktivismus als eine ihrer Möglichkeiten, eine Spielart des Konkreten. Max Bill, ein Meister dieser Dialektik, sagt es so: „Konstruktive Kunst ist jener Teil der konkreten Kunst, der sich systematisch-konstruktiver Mittel bedient“ (4). Der Rigorismus, konkrete Werke müssten klar, exakt oder „anti-impressionistisch“ sein, entfällt damit. Also können sie auch unklar, ungenau und unscharf sein. Für konkrete Fotoarbeiten würde ich dies jedenfalls in Anspruch nehmen, denn bekanntlich sind auch Staub und Unschärfe konkrete fotografische Realitäten.

Künstlerische Konkretion führt jede Sprache auf sich selbst zurück, auf ihre Anfänge, ihre Grundidee – um sich ihrer stets neu zu vergewissern. Das ist ihre Aufgabe und ihr Sinn. Ihre Leistungen sind die ihrer Pioniere. Sie haben erkannt, dass man sprachliche Konventionen und Gepflogenheiten von Zeit zu Zeit überprüfen und ihnen auf den Grund gehen muss. Das gilt für alle Sprachformen, für die der Laute und der Klänge, der Gesten und der Bewegungen, auch für die Sprache des Bildes – und der Fotografie.

III. Formalismus–Konkretismus

Das gilt besonders heute, an der Schwelle des Übergangs zu einer ‚anderen’ Fotografie, die weniger Bilder ‚nimmt’ als Bilder ‚gibt’. Kein Wunder, dass fundamentale Aktivitäten jetzt stärker in Erscheinung treten: durch Ausstellungen und Publikationen, durch Sammlungen und Symposien. Was macht das Fotografische eigentlich aus? Was wird von diesem epochemachenden Medium noch gebraucht?

Die Konkretisierung des Bildes, ja eine Konkrete Fotografie, ist daher kein Luxus, keine überflüssige, sondern eine notwendige Übung, ein Pflicht. Konkrete Fotografien sind formbezogen, formalistisch. Sie sind ein Projekt der Formalen Ästhetik, die sich ausschließlich mit der Formgebung ästhetischer Objekte befasst. Sie sind bildlicher Ausdruck des Formalismus’ im Sinne einer philosophisch-ästhetischen Disziplin. Fragen der Syntax (Form: wie?) stehen im Zentrum, Fragen der Semantik (Inhalt: was?) und Pragmatik (Funktion: wofür?) treten dabei zurück. Formalismus und Konkretismus sind Verwandte. Sie weisen auf das gleiche Ziel. Ihre Fragen sind Syntaxfragen. Das Bild als Bild, es selbst, seine Essenz – ist reine Form.

Entsprechende Ideen spielten bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine Rolle. Sie standen im Zusammenhang mit der Erforschung des Sehens – als Bedingung für jede Art visueller ästhetischer Erfahrung und Erkenntnis. Die Bedeutung dieser Art Erfahrung und Erkenntnis für den modernen Menschen wurde zu der Zeit zunehmend anerkannt. Als zentraler Begriff bildete sich dabei „Die Sichtbarkeit des Bildes“ (5) heraus. Sie war sozusagen dessen letzter Daseinsgrund – nachdem man angefangen hatte, das Bild jeglicher Abbildungs- und Darstellungsfunktionen zu entkleiden, zuerst gedanklich, später dann tatsächlich, wie es beim konkreten Bild ja durchaus geschieht. Kann man ein Bild denken, das weder Ikon noch Symbol ist? So wurde gefragt. Kann es ein Bild geben, das nicht Medium ist? Wie sähe es aus? Welchen Sinn hätte es dann? Der Abstraktionsdrang und der Ruf nach Autonomie des Bildes als Akt der Befreiung von allen Zwängen führt aber zu nichts anderem als zur reinen Form, zu dem Bild als Objekt seiner selbst, zum Objekt der reinen Anschauung und der sinnlichen Erkenntnis. Die Theorie der Sichtbarkeit des Bildes, d. h. die Anerkennung des Bildes als ausschließlich sichtbarer, nursichtbarer Gegenstand, ist wesentlich für die Praxis des autonomen Bildes – und umgekehrt. Es ist eine Form des Seins, nicht des Scheins, wie Lambert Wiesing formuliert (ebd.). Das konkrete Bild fängt da an und reicht dahin, wo alle anderen noch nicht anfangen können oder schon enden. Es war der Philosoph Konrad Fiedler, der einer „Entfaltung des Sehens durch die Kunst“ in seinen Schriften zwischen 1876 und 1887 nachhaltig Ausdruck gab. Er ist damit einer der maßgeblichen Vordenker des konkreten Bildes (6).

IV. Konkrete Fotografie

Seit 1917 existieren dem entsprechende fotografische Werke. Ihre Eigenschaften – nicht ihre Form – stimmen mit Werken der etablierten konkreten bildenden Künste überein. Dabei geht es wesentlich um die beiden Begriffe Selbstreferenz und Eigendynamik, wie erwähnt. Auch andere Bezeichnungen sind dafür bekannt: Selbstbezüglichkeit und Autopoiesis. Als selbstreferenziell gelten Werke, deren Zeichenreferenten (also das, was sie abbilden, bedeuten oder anzeigen) ausschließlich auf sich selbst verweisen. Sie ‚meinen’ nur das, was da ist, und sie bilden insofern einen Gegensatz zur Fremdreferenz, dem fotografischen Normalfall, bei dem auf Gegenstände verwiesen wird, die nicht da sind. Als eigendynamisch gelten Werke, deren Existenz, Wirkung und Erneuerung ausschließlich auf der Anwendung ihrer eigenen, ureigensten Mittel und Methoden beruht, in unserem Fall im Kern auf Licht und lichtempfindlichem Material.

Bilder dieser Art thematisieren die Wirklichkeit des Bildes mit den Mitteln des Bildes. Es sind Fotografien der Fotografie. Sie machen nicht sichtbar, sondern sind sichtbar, nursichtbar. Sie sind nicht Medien, sondern Objekte.

Erst heute werden entsprechende Aussagen möglich – rund hundert Jahre nach ihren frühen Artikulationen als Ideen und Werke. Erst heute steht ein entsprechender Begriffsapparat zur Verfügung. Mit ihm sind bisher latente Zusammenhänge evident und logisch nachvollziehbar geworden, so dass ein gewisses Verständnis entsteht. Die Praxis war da fortschrittlicher. 1910 schuf Kandinsky das erste konkrete Bild. Man nannte es „Erstes abstraktes Aquarell“ (7) – ohne dass es tatsächlich abstrakt war. Es war konkret. Und damit wegweisend. Es war vollkommen frei, nur ‚es selbst’, wie wir jetzt wissen. Doch der adäquate Ausdruck fehlte, es gab ihn noch nicht. Erst 1930 trat er durch Theo van Doesburg in Erscheinung und in Kraft, wie erwähnt. Das relevante fotografische Datum liegt ziemlich genau zwischen diesen Terminen. 1916 rief der Engländer Alvin Langdon Coburn eine „Abstrakte Fotografie“ aus, um seine Zunft nachdrücklich auf ihre eigenen, eigentlichen Potenziale zu verweisen – unter Vernachlässigung aller anderen, aller ‚überflüssigen’, kontingenten Eigenschaften des Fotos. Coburn appellierte an die Fotografen seiner Zeit, sich auf ihre Eigenmittel zu besinnen, auf ihre eigene „Form und Struktur“, wie er schrieb (8). Mit seinen ‚Vortographs’ von 1917, reinen Strukturbildern von kristalliner Schönheit, leistete er den entscheidenden künstlerischen Beitrag zu seiner Ästhetik, einer damals noch ganz und gar ungewöhnlichen Idee. Insbesondere wenn man bedenkt, dass er die ästhetischen Diskurse eines Stieglitz und seines Kreises in der Neuen Welt Amerikas zwischen ‚pictorial’ und ‚straight’ mit geführt hatte. Aber er hatte sie auch hinter sich gelassen. Im Bannkreis des englischen Vortizismus’ favorisierte Coburn ein ganz ‚anderes’ Foto und ging einen eigenen Weg. Damit ist Coburn der erste konkrete Fotograf.

Die zahlreichen Entwicklungsschritte dieser neuen Gattung können im Rahmen dieses Beitrags nicht nachvollzogen werden. Der Fotohistoriker Rolf H. Krauss beschreibt sie rückblickend, einem Ausdruck Benjamins folgend, als ‚Monaden’, als exemplarische Erkenntnisinseln, an denen sich das Bemühen, zur reinen Form vorzustoßen, erkennbar zeigt (9). Es handelt sich um Eigenleistungen der Fotografen, nicht um solche anderer bildender Künstler mit Fotografie, wie dies später, in Zeiten der Konzeptkunst häufig der Fall war. Sie weisen eine reiche Praxis unterschiedlichster Prägung nach. Eine Darstellung ihrer Ästhetik als nachvollziehbare Ideen- und Formgeschichte steht noch aus. Der Umgang mit konkreten Fotografien ist ungeübt, kaum jemand weiß sie zu bewerten. Es ‚gab’ sie nicht. Weder die konkrete noch die fotografische Gemeinschaft haben sie erkannt, geschweige denn anerkannt. In der Hochburg der Konkreten, der Zürcher Stiftung ‚Haus konstruktiv’ (vormals: Stiftung für konstruktive und konkrete Kunst Zürich), existiert kein Werk der konkreten Fotografie, wie die Kunsthistorikerin Beate Reese fand (10). Auch die Fotowelt tat sich schwer. So wurden konkrete Fotoarbeiten wohl als „Spiel mit den bildnerischen Mitteln“ oder „Experiment“ gelitten, zeitweise galten sie aber auch als „entartet“ und „zwielichtige Gattung“ (11). Man war sich ihrer Tragweite nicht bewusst.

Mit zunehmender Ausdifferenzierung der Fotografie im künstlerischen Kontext scheint sich aber diese Art Einstellung doch allmählich zu verflüchtigen. Hier und da formieren sich Kreise und Zentren auch für das Konkrete Foto. Seit neuestem in der, wenn auch noch kleinen, doch exemplarisch aufgebauten Abteilung „Konkrete Fotografie“ in der Sammlung Peter C. Ruppert - Konkrete Kunst in Europa nach 1945 (12). Sie ist Teil der Dauerausstellung im Museum im Kulturspeicher Würzburg und setzt hiermit ein positives Zeichen. Fünfundzwanzig Werke von vierzehn Künstlern und der Künstlerin Inge Dick stehen stellvertretend für viele andere, die entsprechende Werke geschaffen haben. Sie gehören zu den modernen Klassikern der konkreten Fotografie. Ihre Pioniere und die aktuelle Avantgarde dieses Gebietes wären zu ergänzen.

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